Inzucht - Was sucht der inzüchtende Züchter ?

Bedauerlicherweise gibt es immer noch Züchter, die mit euphemistischer Naivität möglicherweise teils unbewusst die Vorteile der Inzucht loben, die zum aktuellen Zeitpunkt keine mehr sind: Dies kommt in der Suche nach phänotypisch möglichst homogenen Würfen zum Ausdruck, und in der Bezeichnung von Hunden, deren Nachkommenschaft bemerkenswert einheitlich ist, als „starken Vererbern“. Hier handelt es sich in der Tat um den einst gesuchten Inzuchteffekt zur Stabilisierung des Phänotypen im Rahmen der Rassekreation, von dem wir ja nun wissen, dass er vor allem Ausdruck einer Verarmung des Genotyps durch extreme Homozygotie ist: Ein „starker Vererber“ hat alle Chancen, genetisch betrachtet ein Hund mit einem stark homogenisierten Genotyp zu sein mit den oben beschriebenen Folgen hinsichtlich der Gesundheitsrisiken seiner Nachkommen. In einer phänotypisch fixierten Rasse weiter nach „starken Vererbern“ und deren einheitlichen Würfen zu streben ist eine zuchtpolitische Absurdität, die sich in inzuchtbelasteten Anpaarungen ausdrückt. Mögliche Erklärungen dafür sind entweder mangelnde Sachkenntnis oder aber falsche Prioritätensetzung beim Züchter. Beides ist sicher kein Argument, bei diesem einen Hund zu erwerben, wenn man selber den Wunsch hat, in dieser schon schwer pathologiebelasteten Rasse die Chance auf den Erwerb eines gesunden Hundes wenigstens möglichst groß zu halten.

Der Homogenisierungseffekt bei Inzestzucht ist so deutlich ausgeprägt, dass das Auftreten von gesundheitlichen Schäden bereits in der ersten Generation wahrscheinlich wird, weshalb die meisten Züchter zum aktuellen Zeitpunkt von einem solchen Risiko absehen. Weiterhin gebräuchliche Methoden sind allerdings nahe und mittelgradige Inzucht, insbesondere in Form des sogenannten Linebreeding (das abzugrenzen ist von der Linienzucht, in der in eine durchgezüchtete Mutterlinie permanent Fremdblut eingekreuzt wird): Das Ziel ist hier identisch mit dem der nahen (oder jeder anderen Form der) Inzucht: Homogenisierung des Erbguts mit dem Ziel, die Nachzucht im Phänotyp weiter zu vereinheitlichen, nur eben über mehr Generation als beispielsweise bei Inzest und die  Risiken sind im Endeffekt die gleichen, und auch der IK und AVK können dies aufzeigen: Mehrfache nahe Inzucht über mehrere Generationen kann für die Nachzucht einer Verpaarung einen höheren IK und AVK ergeben als eine einmalige Inzestzucht.

Es gilt eine simple Regel: Es gibt kein „sicheres“ Inzuchtniveau.

Es soll eine kleine Anmerkung gemacht werden zu dem immer noch hin und wieder angebrachten Argument der „genetischen Reinigung“ durch Inzucht: Hier wird die richtige Grundaussage, dass Defektallele nicht nur Inzucht entstehen, sondern durch die dabei stattfindenden Homogenisierung der Gene (also das Forcieren der Homozygotie) sichtbar gemacht werden, zu einem Zuchtprinzip erhoben: Auf diese Weise könnten Defektallele erkannt und somit ausselektioniert werden. Allerdings funktioniert dieses System nicht, schon alleine aus dem simplen Grunde, dass es nicht zu einer Verminderung der heterozygoten, also symptomlosen Träger in der Population führt und diese ihre Defektallele weiter an die Nachkommen übertragen. Nebenbei bemerkt könnte der Ansatz ohnehin nur für Erkrankungen angedacht werden, die mit Sicherheit bereits vor dem Zuchteinsatzalter auftreten.

Die Bestrebungen eines verantwortlich handelnden Züchters werden dahin gehen, den Inzuchtkoeffizient seiner Anpaarung möglichst gering zu halten, um somit der Rasse einen Teil der genetischen Heterogenität zurückzugeben, die bei der Rassekreation verlorengegangen ist und ihr Fortbestehen auf eine möglichst breite genetische Basis zu stellen, zumal eine abgeschlossene ingezüchtete Population auch das Risiko läuft, Allele komplett und unwiderruflich zu verlieren. Dieser Vorgang wird als genetische Drift bezeichnet.

Die rassespezifischen Erkrankungen sind wie gesehen eng mit der inzuchtbedingten Verarmung der Genetik verwoben und sie ausschließlich über die Elimination erkrankter Tiere beherrschen zu wollen ist illusorisch, wenn nicht gleichzeitig daran gearbeitet wird, die genetische Variabilität der Rasse zu erhalten. Eine Dogge, in deren Ahnentafel bis zur fünften Generation kein Name zweimal vorkommt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein wertvolleres Tier für die Gesundheit und Zukunft der Rasse als ein titelübersäter Champion mit einem IK von 25%. Ebenso sollte nicht übersehen werden, dass der übermäßige Einsatz von einzelnen Deckrüden den Inzuchtkoeffizient in einer abgeschlossenen Population zwangsläufig in die Höhe treibt. Die Verpaarung von 50 Hündinnen mit 40 verschiedenen Rüden erhöht den IK der betreffenden Population um 0,56%, bei der Verwendung eines einzigen Rüden steigt der IK der Population der Nachkommen auf 12,5%: Dies ist einleuchtend, denn sämtliche Welpen der 50 Deckakte sind Halbgeschwister, deren Anpaarung untereinander bekanntlich in einem IK von 12,5% resultiert. Die maximale Ausbremsung dieses Inzuchtanstiegs innerhalb einer geschlossenen Population würde übrigens durch ein 1:1-Verhältnis zwischen männliche und weiblichen Zuchthunde erzielt…

In Abwesenheit von sinnvollen Begrenzungen der Anzahl der Deckakte für Rüden ist das verantwortungsvolle Verhalten der Züchter gefordert und deren Deckrüdenwahl kann ein hilfreicher Hinweis für Welpenkäufer sein, ob hier ein sachkundiger Mensch am Werk ist.

Das Ziel der verantwortungsvollen Zucht einer Hunderasse, deren phänotypische Eigenschaften genügend fixiert sind, kann nur sein, den bei der Rassekreation durch die ungewollte aber unvermeidliche Homogenisierung von Defektallelen entstehenden Vitalitätsverlust weitestmöglich wieder rückgängig zu machen, indem zum einen radikal auf gesundheitliche Aspekte selektioniert wird und zum anderen selbstverständlich auf Verpaarung verzichtet, die diese Homogenisierung noch verstärken, also einer Inzucht entsprechen.